Dezember 2023
Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern.
Lukas 2, 30-31
In unseren Tagen ist die Sensibilität dafür gewachsen, wer etwas sagen darf und wer nicht. Der Satz eines Menschen aus einer unterdrückten oder diskriminierten Minderheit, den der Vertreter der herrschenden Mehrheit wiederholt, kann aus diesem Mund völlig unakzeptabel erscheinen. Ich gestehe, ich habe mich oft an diesen Differenzierungen gestoßen. Aber wenn ich den Monatsspruch für Dezember 2023 bedenke, wächst mein Verständnis dafür.
Simeon aus Jerusalem, ein gerechter und gottesfürchtiger Mann, gehört zu einem seit Jahrhunderten unter Fremdherrschaft lebenden, ausgebeuteten Volk. Von ihm heißt es, er habe auf den Trost Israels gewartet, also auf die Befreiung und Erneuerung seines Volkes. Vielleicht darf man den Trost auch personalisieren, er habe also auf den Messias gewartet, der die nationale Selbstbestimmung Israels wieder herstellt.
Dieser Simeon kommt auf Anregen des Geistes Gottes in den Tempel, als die Eltern Jesu ihre Opfer für ihren Erstgeborenen darbringen. Da erkennt Simeon in dem Säugling Jesus den, auf den er ein Leben lang gewartet hat, den Trost Israels, sein Heil und lobt Gott mit wunderbaren einprägsamen Worten seiner jüdischen Tradition.
Doch Simeon erkennt in dem Säugling auf seinen Armen noch weit mehr: Simeon erkennt, dass dieser nicht nur zum Heil seines Volkes kommt, nein, er kommt zum Heil aller Völker. Welch eine Ausweitung der lange gehegten Hoffnung! Welch eine Größe der Pläne Gottes geht Simeon da auf. Und er kann das Größte mit dem ganz Persönlichen verbinden: Jetzt, wo er das Heil für alle Völker geschaut hat, jetzt ist auch sein persönliches Leben erfüllt, und er kann im Frieden „fahren“, Simeon, der Vertreter eines seit Jahrhunderten unterdrückten Volkes hat die Hoffnung der Welt gesehen.
Ich aber lebe in einem politisch freien Land, ich gehöre zu einer reichen, immer noch mächtigen Institution und lebe in großer wirtschaftlicher Sicherheit. Wenn ich so große Worte wie „Heil für die Völker“ in den Mund nehme, dann haben diese Worte einen ganz anderen Klang. Bei Simeon sind die Worte Ausdruck einer großen Hoffnung. Bei mir entstehen tausend Fragen, was die Worte denn bedeuten könnten für mich, für uns, verstrickt in viele unheilvolle Verhältnisse unserer Zeit.
Ich schreibe diese Gedanken nieder unter dem frischen Eindruck der katastrophalen Rücktritte der Vorsitzenden des Rates der EKD und Präses der Westfälischen Landeskirche.
Ich schreibe diese Gedanken unter dem Eindruck von Gesprächen mit Männern über Missbrauch in der Kirche, mit Männern, die zT jahrzehntelang kirchenleitend tätig waren. Da fand ich alles von: „Wir haben alles richtig gemacht!“ Über hilfloses Achselzucken, bis zum Eingeständnis: Da sind auch Fehler gemacht worden. Aber ich fand fast keine Erinnerung an die Opfer. Und ich stelle bei mir selbst fest: Wenn ich (An-)Klagen von Opfern höre, fühle ich mich leicht angegriffen und gehe schnell in eine Verteidigungsposition.
Wie soll ich vom „Heil für die Welt“ sprechen, wenn wir so ins Heillose verstrickt sind?
Und wundert sich dann noch jemand über die Ergebnisse der neuen Umfrage zur religiösen Einstellung der deutschen Bevölkerung? Mehr als 80% der Gesamtbevölkerung sind der Ansicht, dass Religion für ein gutes Leben nichts beiträgt. Mehr als die Hälfte der evangelischen Kirchenmitglieder haben schon einmal darüber nachgedacht, die Kirche zu verlassen.
Natürlich kenne ich die wohlfeile theologische Antwort auf diese Fragen: Wir verkündigen doch nicht uns selbst, wir verkündigen doch Jesus als Retter der Welt! Das ist eine korrekte Antwort. Nur sollten wir misstrauisch gegen sie sein, denn sie könnte uns auch hindern, ehrlich nachzufragen, warum denn immer weniger Menschen unsere Verkündigung hören wollen und überhaupt noch hören können.
Mir gehen in diesen Tagen Dietrich Bonhoeffers Worte aus der Haft durch den Kopf: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neu geboren werden aus diesem Beten und diesem Tun.“ (Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Seite 435f).
Adventszeit ist Bußzeit. Ich wünsche, dass wir alle, dass unsere Kirchen um die Gnade der Umkehr bitten, damit wir heillose Bindungen, in die wir verstrickt sind, erkennen und Erneuerung finden. Damit unser „Heil für die Völker“ an Weihnachten nicht falsch klingt sondern Kraft hat.
Amen
(Manfred Bender, Heidelberg)