September 2024
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?
Jeremia 23, 23
Ja, das waren noch Zeiten, als Menschen meinten, sie können punkten, wenn sie sich auf Gott berufen. Als sie im Namen Gottes Leuten Frieden und Sicherheit versprachen. „Seid unbesorgt, Gott ist mit euch!“
Wenn die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 2023 recht hat, dann hat Religiosität gerade noch für gut 30% der Menschen in Deutschland noch eine gewisse Bedeutung. Nicht einmal mehr im Umgang mit schwierigen Situationen greifen Menschen noch mehrheitlich zu Religion, zum Beten, zur Bibel.
Es scheint, wir müssen nur wenige Menschen warnen, dass sie Gott für zu nahe halten, ihn zu leicht für sich in Anspruch nehmen. Für die große Mehrheit scheint Gott nicht nur sehr fern, Gott scheint sich geradezu in Belanglosigkeit verflüchtigt zu haben.
Früher hätte ich gedacht, es ist doch gut, wenn im Namen Gottes keine Absolutheitsansprüche mehr gestellt werden. Wenn niemand mehr religiöse Wahrheit für sich pachtet, müssten sich doch unsere öffentlichen gesellschaftlichen Diskurse leichter, pragmatischer, respektvoller gestalten lassen.
Immer mehr scheint mir, das Gegenteil ist der Fall. Der Eifer, mitunter die Wut, mit der Menschen unterschiedlicher Meinungen und Ansprüche aufeinander losgehen, scheinen jedenfalls nicht kleiner geworden zu sein. Auch ohne das Wort Gott im Mund zu führen. Ein Totalitätsdenken, das alles und alle der eigenen Weltsicht unterwirft, ist vital und gefährlich verbreitet.
Lässt sich dagegen etwas tun? Wenn wir Menschen nicht mehr auf Gott ansprechen können, weil sie keine Antenne dafür zu haben meinen, können wir sie doch ansprechen auf ihr Menschsein. Weil wir glauben, dass Gott sich im Menschen sein Bild geschaffen hat. „Liebe deinen Nächsten, dir gleich“, hat ja genau das zur Grundlage.
Nur, dass Gott auch im Nächsten nicht einfach nahe ist. Gott bleibt auch im Nächsten „fern“, wir haben nicht einfach das Recht zu wissen, was für den Nächsten gut ist, er ist nicht Objekt unserer Güte. Und schon gar nicht Instrument dafür, dass wir uns gut fühlen können als Helfer der Menschheit. „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“. Diese in jüdischen Übersetzungen häufig gehörte Wendung, bedeutet nicht: „Liebe deinen Nächsten, damit er wird wie du.“
Gott im Nächsten will Augenhöhe, und gerade darin bekommen Respekt und Freiheit im Umgang miteinander eine Chance.
Emanuel Levinas hat immer wieder von der „Andersheit des Anderen“ gesprochen. Diese Andersheit des Anderen zutiefst anzuerkennen, auch dem „Nächsten“ sein „Fernsein“ zu gestatten, Raum zu lassen, dass dieser Nächste sehr anders sein – denken, fühlen, bedürftig sein – kann als ich selbst.
Das heißt nicht, blindlings jedes Anderssein toll finden zu müssen. Aber es öffnet Türen für Zuhören, Gespräch, Dialog, wo in den Filterblasen der Empörung oder Wut oft keine Türen gesehen werden.
Gudrun Laqueur